Ich selber habe während meiner ersten Therapie, die aus einer langen Psychoanalyse bestand, dann einer zweijährigen Pause, dann noch einmal einem tiefenpsychologischen „Nachschlag“ bei Pit Wahl in Bonn, einem Adlerianer, überhaupt erstmal erfahren, dass es in mir mehrere „innere Kinder“ gab. Der Therapeut hat den Begriff nie benutzt, aber ich, später. Einige Bücher zur Arbeit am Inneren Kind habe ich zusätzlich noch durchgearbeitet. Mein Therapeut ist mit diesen in Resonanz gegangen, hat sie hervorgerufen, gelockt, manchmal durch Fragen, manchmal durch eine bestimmte Art, den Raum mit meiner Unsicherheit und mir noch unklaren Gefühlen und Empfindungen zu halten, manchmal einfach durch sein interessiertes und ermutigendes Da-Sein. Nach und nach erschienen sie: das neugierige, eingeschüchterte, depressive, verstimmte, traurige, wütende, erstarrte, unsichere Kind. Das heitere, verspielte, ernste, eifrige Kind, das seine Umgebung scannte und sich nicht entspannt hinlegen konnte. Das gut erzogene, angepasste Kind, das originelle, wissensdurstige Kind, das anklagende, nörgelnde, einsame, verzweifelte Kind. Das gläubige, vertrauensvolle, sanfte, sensible, ängstliche, begabte, kreative, das wilde Kind. Das immer durstige Kind.
Beim Therapeutischen Schreiben, das ein gerichtetes Schreiben ist, interessieren wir uns für das, was diese Stimmen zu sagen haben und helfen ihnen, sich vollständig auszudrücken. Menschen schätzen das, weil sie sich ernst genommen fühlen. Sie spüren, ich bin wichtig. Der andere (unser erwachsenes Ich) nimmt sich Zeit für uns. Wir heilen die Beziehungen zwischen uns als Erwachsene und den jüngeren Anteilen, in dem wir beiden Stimmen Raum und damit ein Existenzrecht zubilligen. Wir üben dabei, uns immer mehr auf unsere Intuition zu verlassen, so zensurfrei wie nur möglich zu schreiben, in welcher Stimme auch immer. Wir üben, uns dem Schreibfluss, dem Stift anzuvertrauen, ihm hinterherzugehen.
Dabei erlösen wir die jüngeren Selbste aus ihrer Stummheit und unverschuldeten Unmündigkeit. Von unterdrückten Leibeigenen erklären wir sie zu autonomen Bündnispartnern. Damit entwickelt sich die feudale innere Struktur zu einer Demokratie, in der – im besten Fall – jede Stimme gehört wird und schwächere „Bürger“ Unterstützung erhalten. Der innere Dialog, der oft an Befehlssprache von Uniformierten in Kasernen, Gefängnissen oder in einem Umerziehungslager erinnert, entwickelt sich, oft nach einer Phase der Rebellion, des Aufstandes, des Putsches oder auch einer blutigen Revolution, bei manchen nach einer inneren Emigration in Wüstenland, zu einer seelischen Erweiterung, einem inklusiven Umgang mit den anderen, einer Kultur der Verständigung, des Konstruktiven Streitgespräches, der Achtung vor Freundin und Gegner.
Wo unsere inneren Beziehungen blühen und eine metaphernreiche, authentische Sprache Einzug gehalten hat, beginnen auch äußere Landstriche neue Triebe zu entfalten. Gräben mögen sich zwar neu auftun zwischen Stämmen, die einander früher zugetan waren, doch auch die Kunst des Brückenbaus über Gräben und Wälle nimmt an Brillianz zu. Aus dem Therapeutischen und auch Autobiografischen Schreiben können sich, wie von alleine, Schreib- und andere künstlerische Projekte, heilerische Visionen entwickeln. Ohne ausdauernde Arbeit an uns selber, nimmt einem niemand unsere Angebote, seien sie künstlerischer oder therapeutischer Natur, ab. Der Mit-Mensch möchte schließlich authentisch berührt werden, sehnt sich nach Einklang von Wort und Tat. Wenn da mal Fehler gemacht werden, verzeiht er es dann, wenn die Grundausrichtung stimmt: Wenn Liebe mit im Spiel ist.
Lehrerin, Heiler, Therapeutin, Künstler, Forscherin, Mutter/Vater: Allein durch unsere Authentizität wirken wir heilsam auf die Ganzwerdung, die auch immer unsere eigene ist.