Frei Feder

Es wird Zeit, mal wieder übers Schreiben zu schreiben. Sonst denken die Leute noch, ich hätte nur Zen, Meditation und Achtsamkeit im Kopf – was mir vielleicht besser täte. Wir haben gestern das Online-Retreat „Zeit für Dein Projekt“, mit dem wir bislang stets in Hof Kuppen waren, einem ländlichen Dharma-Zentrum mit umwerfendem Ausblick und einladend für kurze und lange Spaziergänge, an unseren Bildschirmen gemacht. Dieses Setting erlebe ich insgesamt als etwas anstrengender, weil ich mich noch seltener als sonst bewege, und noch nicht einmal Kopf und Augen wenden muss wenn ich den Teilnehmern beim Sprechen oder Vorlesen lausche. Aber was soll’s, denke ich, wir halten auf diese Weise zusammen: Die Referentin gibt was sie zu geben hat und erfüllt damit Beruf und Berufung, und die Teilnehmer*innen bleiben an dem was sie sich vorgenommen haben dran.

Der letzte Satz ist hier das Entscheidende. Darin sind sich Meditations- und Schreibpraxis so ähnlich: Sie lehren uns als Allererstes „dran zu bleiben“. Möglichst täglich, möglich zur selben Zeit (da sind die Meditationsanleitungen noch strenger) und möglichst nach dem selben Strickmuster auf dem Kissen, dem Stuhl, wo immer, zu sitzen. Beim Schreiben gilt das auch! Allerdings ist es egal wo Du sitzt, Hauptsache Du schreibst. Ich lernte mit der Zeit, dass es in gewisser Weise sogar egal ist was Du schreibst – das kann sehr erschütternd sein wenn Du zu dieser Einsicht vordringst -, Hauptsache Du schreibst.

Da bleibt etwas im Fluss, dieser Strom des Geistes, vom Kopf zum Herzen – oder umgekehrt, vom Herzen zum Kopf in die Hand. Was wir üben und lernen wollen, ist „frei Feder“ zu schreiben. Früher sagte man „frei Schnauze“ zu sprechen, sagt heute kein Mensch mehr. Das ist viel schwerer als wir denken. Weil wir es ja auch dann tun sollen, wenn uns nicht danach ist. Wenn wir nicht wirklich acht geben wollen auf unsere Gedanken, das heißt, manchmal wollen wir einfach nicht wissen was gerade los ist mit uns. Ich aber halte das für wichtig. Gerade die sogenannten „Drei Morgenseiten“, die Julia Cameron in ihrem Buch „Der Weg des Künstlers“ empfiehlt, sorgen so einfach dafür, dass unser Schornstein gereinigt, unser Komposthaufen belüftet, unser schreibendes Ich sich äußern darf und zur Ruhe kommt. Diese Art von innerer Ruhe, die wir dann am Tag benötigen, um konzentriert und scheinbar absichtslos unsere diversen Aufgaben zu erfüllen.

Und darin sind sich Meditationspraxis oder Kontemplationspraxis und Schreibpraxis ja so ähnlich! Beide Wege dienen der Reinigung und Selbsterkenntnis, schulen unsere Disziplin und pflegen den „Inneren Garten“, machen uns vertraut mit der „Kunst der Einsamkeit“, wie der Gelehrte, säkulare Buddhist Stephen Batchelor sein neues Buch genannt hat. Wir kultivieren sie, indem wir ihr aus dem Weg zu gehen, unsere Schreibstimme, die so wundersamen Gesetzen gehorcht dass ich immer noch nicht weiß wer da eigentlich das Wort ergreift, wenn ES schreibt.

Können wir uns eigentlich noch vorstellen, dass es Frauen verboten war oder – wo nicht ausdrücklich verboten – so war es doch einfach undenkbar, dass Frauen schrieben, lasen, zur Schule gingen? Das ist doch ein Hammer und ein Jammer! Manchmal will es mir so scheinen als trügen wir diese Last noch immer auf unsere Schultern, in unseren Genen: Unserer Bestimmung als Frauen, die andere für uns aussuchten als wir selber, zu folgen und nicht nach links und rechts zu schauen. Heute schauen Frauen nach links und rechts, lernen lesen und schreiben, dürfen sich empören und die Bücher lesen, die zu ihnen passen und sich inspirieren lassen. Heute kann frau ein Kind oder mehrere Kinder bekommen und alleine leben oder mit einer Frau oder mehreren Menschen zusammen. (Ich vernachlässige jetzt mal die strukturelle Gewalt, der Frauen noch immer ausgesetzt sind, wie zum Beispiel weniger Gehalt für dieselbe Arbeit zu bekommen.) Sie kann entscheiden, keine Kinder zu bekommen. Sie kann Künstlerin sein und Geld verdienen; nicht immer geht das zusammen – leider oder Göttin sei Dank. Sie kann sich zu ihrer Inneren Künstlerin oder Heilerin bekennen und endlich verstehen, warum ihr Weg so holprig und dunkel war – jetzt hat sie soviel Anschauungsmaterial, um aus dem Vollen zu schöpfen bei dem Tun, zu dem sie sich berufen fühlt. Plötzlich hört man ihr zu. Sie ist eine „Verwundete Heilerin“ geworden. Das geht auch beim Schreiben. Sie hat ihr wahres Selbst geboren und seit wann sind Geburten schmerzlos?

Ich sah mich oft als Geburtshelferin, als Hebamme der Künstlerinnen und – zunehmend – auch der Künstler. Wie ich mich als Trauer- und Sterbebegleiterin sah. Denn Neues entsteht nur, wo Überlebtes gestorben war. Unsere Männer trauen sich, sich selbst zu trauen: Die sensible, verwundete, auf dem Heilungsweg begriffene Seele zu sein, die sie wirklich sind, aus ihren Zwängen aus zusteigen und nahrhaftes Brot zu backen. Schönheit zu erschaffen. Frei Feder zu schreiben.