Veröffentlicht in der buddhistischen Zeitschrift Ursache/Wirkung No. 112 / 2020
Zeugnis-Ablegen-Retreat in Auschwitz – wie Monika Winkelmann Trauer erlebt hat
Zu meinem ersten von sechs Zeugnis-Ablegen-Retreats im ehemaligen Konzentrationslager Auschwitz habe ich mich 2010 angemeldet. Bernie Glassman nannte diese Tage in Auschwitz, die jeweils am Montag in der Früh in Krakau mit einem schweigenden Auszug aus der Stadt zu den Bussen begannen, ‚Plunges‘. Auf Deutsch könnte man dazu Sprung oder Sich-Stürzen sagen. Für jeden Teilnehmer ist es ein Sturz ins Nichtwissen. Ohne Voreingenommenheit, ohne Absichten und ohne auf das Ergebnis zu schielen, bin ich bereit, mich voll und ganz auf die Situation einzulassen. Ich will sowohl die Schreie wie das Heilsame wahrnehmen. Ich verlasse während des Retreats meine Komfortzonen immer wieder aufs Neue. Auschwitz war nie nur für diejenigen da, die durch ihre Lebensgeschichte als Betroffene oder Nachfahren mit dem
konkreten Vernichtungslager verbunden sind. Bernie Glassman betont immer wieder, dass Auschwitz auch für alle anderen Orte in der Welt, an denen Genozide und extreme Gewalt stattgefunden haben, steht.
So kam es, dass in der großen Gruppe von Teilnehmern und Teilnehmerinnen viele Nationalitäten vertreten sind, darunter zahlreiche Juden, wenige Deutsche von Täterseite, auch Menschen aus Ruanda oder Angehörige indianischer Stämme sowie Palästinenser und Sinti. Wir beten alle gemeinsam und lauschen den Beiträgen über das immense Leid, das den Familien angetan wurde und das sie als Kollektiv erfahren haben. Das Retreat bedeutet für mich: Trauern dürfen fünf Tage lang, aber auch vor und nach der Reise nach Auschwitz. Die Konfrontation mit starken eigenen Gefühlen und Gedanken und auch die Emotionen der anderen Teilnehmer zu spüren und mit ihnen auf Tuchfühlung zu gehen. In täglichen Zeremonien rezitieren wir die Namen der Ermordeten und geben ihnen so ihr Antlitz, ihre Kostbarkeit zurück. Es gibt lange Gehmeditationen in „edlem Schweigen“, auf den Schienen und um die Ruinen der Gaskammern herum. Im Kreis stehend sprechen wir das Kaddish, das jüdische Totengebet.
Wir beten in allen Sprachen der Anwesenden. Augenzeugen, die überlebt haben, lassen uns an ihren Erinnerungen teilhaben. So geschieht langsam, unmerklich, manchmal in Sprüngen eine Transformation. Juden, Deutsche, Palästinenser und die vielen anderen Teilnehmenden umarmen einander, halten sich im Schmerz in ihrer tiefen Berührtheit und Verbindung. Die Membran zu den Toten wird manchmal sehr dünn, sodass man sie zu hören vermeint.
Auch die Mörder auf den Türmen, an der Rampe kann man hier und da spüren. Manchmal wird auch für die Vorfahren einiger deutscher Teilnehmer von der Täterseite laut gebetet. Ist das richtig?, fragen sich einige Freunde. Wie kann es anders sein, sagen andere. Versöhnung in Auschwitz: ein Weg, kein Ziel. Frieden ist ein Geschenk, für den wir den Boden definitiv bereiten können. Heute kann ich über Auschwitz sprechen. Ich sehe heilsame Bilder vor mir, und ich zähle Juden zu meinen Freunden. Gespräche in meiner Familie und in meiner Zen-Gruppe über die Vergangenheit sind möglich.
Es tat einigen einfach gut, dass ich stellvertretend für eine ganze Reihe von Zeitgenossen Zeugnis abgelegt habe. Ich habe mehrmals still und auch laut um Verzeihung gebeten. Die Dialoge und Kreisgespräche
während des Retreats in der großen internationalen Gruppe tragen zu meinem Frieden bei.
Auszug aus Ursache/Wirkung No. 112 / 2020
UW112_MonikaWinkelmann