Wenn ich „Gewaltfreie Kommunikation nach Marshall Rosenberg“ lehre – wobei der Begriff „lehren“ erläutert werden muss –, dann beginne ich immer mit meiner Erfahrung, dass Menschen sehr unterschiedlich definieren, wo ihre Grenze überschritten, also Gewalt angewendet wurde.
Ich öffne einen Raum, in dem wir eine solche Situation, die schmerzte und der wir kaum Aufmerksamkeit geschenkt haben, gleichsam unter das Mikroskop legen und sie genau betrachten. Genaue Betrachtung schützt vor unangemessenen Schuldgefühlen, denn um diese geht es nicht, nicht hauptsächlich. (Diese können und dürfen natürlich auch angeschaut werden, da sie uns oder anderen Schmerzen bereiten.)
Es geht einfach darum, unsere Achtsamkeit zu schulen, unsere tiefe Sehnsucht nach Verbindung, Verständigung und Verlebendigung auszudrücken. Gewalt jedoch trennt, frustriert, lähmt und bringt oft genug Gegengewalt hervor.
Wenn wir so intensiv schauen und spüren, gelingt es uns, bei einiger Übung, mit Neugier und Wachheit, den Druck wahrzunehmen, der auf der Situation gelastet hat, vielleicht Zeitdruck oder Angst, etwas nicht richtig zu sehen oder zu tun oder getan zu haben. Oder heruntergeschluckter Ärger, Frustration, etwas war nicht so gelaufen, wie wir es gebraucht, gewünscht, erhofft hatten. Wir haben es aber nicht ausgedrückt aus Sorge, der andere Mensch könne uns anschreien, verlassen, uns als pingelig, unangemessen, chronisch unzufrieden brandmarken. Ich bringe diese sehr allgemeinen Beispiele – in der Realität des gemeinsamen Übens werden wir immer ganz konkret! –, um uns vor Augen zu führen, dass es Beispiele in Hülle und Fülle gibt, von vergleichsweise geringer Sprengkraft, die uns selbst oder andere schmerzvoll berührt haben. Wie oft denken wir: „Du Arschloch!“ oder sagen etwas Ähnliches oder beschimpfen uns selber als „Idiot“, „wieder einmal daneben“, „pathetisch“, „faul“ und so weiter und so fort.
Was ist es GENAU, das uns etwas so und nicht anders sagen lässt? Wir hätten uns Freude, Befriedigung, Leichtigkeit gewünscht? Innigkeit, Mut und hätten gefeiert werden wollen? Wir waren traurig, betreten, erschöpft, haben uns klein gefühlt, einsam und sehnten uns nach Gleichklang, Harmonie? Wenn wir diese Sprache üben und benutzen, sind wir nah bei uns, machen uns sichtbar, zeigen unsere Bedürfnisse! Wir sagen nicht: DU sollst sie uns erfüllen, und zwar alle und jetzt. Nein, wir drücken sie nur aus und wollen mit ihnen gehört und gesehen werden. Oft ist das schon genug, dass ein Gegenüber unsere Bedürfnisse hört und ernst nimmt, von Erfüllung ist dann gar nicht mehr die Rede. Vielleicht kann das auch jemand anders und viel besser: uns ein bestimmtes Bedürfnis erfüllen.
Verstehen Sie, worauf ich hinauswill? Ich bin immer wieder so erschüttert, wenn ich meine Rückfälle in die alte Sprache der Bewertungen, Abwertungen, des Ehrgeizes und der Gewohnheit bemerke. Ich möchte etwas abschließen, vielleicht, erfülle mir das Bedürfnis nach Zuverlässigkeit, Anerkennung meiner Seriosität, nach Anerkennung der Bedürfnisse eines anderen. Aber gerate in Konflikt mit dem Bedürfnis meines Rückens nach Pause, Bewegung, Zweckfreiheit.
Wir können diese Sprache des Lebens, auch und vor allem uns selbst gegenüber erlernen. Diese Sprache wurzelt in der Stille, sie lässt sich Zeit, jedes Wort will gewogen und geboren werden. Wie oft haben wir früher beieinander gesessen, in Wohnzimmern, Essen und Trinken geteilt, miteinander abgewaschen, vielleicht sogar miteinander gesungen! Einen Spaziergang gemacht. Diese technischen Geräte sind vom Teufel. Sie stehlen uns Zeit, und statt den Blick in die Augen des Gegenübers zu versenken oder diesen zusammen in den Himmel, auf die Oktoberfarben der Bäume zu richten, holen wir das Handy aus der Tasche. Hat es nicht gerade vibriert?
Nein! Mein Herz, mein ganzer Körper hat vibriert. Beim Laufen und Lauschen im duftenden, atmenden Herbstwald. Komm, lass uns dort hinten auf einen Baumstamm setzen: Ich möchte etwas mit dir bereden. Ich bin dabei, eine neue Sprache zu üben. Bitte habe Geduld mit mir.
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