Irgendwo las ich heute morgen eine strenge Kritik an Zen bzw. an dem, was der kritische Geist dafür hielt. Ich hatte den Eindruck, wie es so oft der Fall ist bei “Berufskritikern”, dass sie etwas vom Kritisieren verstehen, weniger davon, sich auf etwas Unbekanntes einzulassen und wirkliche Erfahrungen zu machen. Achtung: Das gilt NICHT für alle! Am Interessantesten sind diejenigen, die aus ihrer Leidenschaft für das Schreiben, für wertschätzende Sprache und den Gegenstand, über den geschrieben wird, ihre Texte verfassen. Nun wird man natürlich sofort einwenden können, dass man (oder Mensch) nicht alles erfahren haben muss, um es zu kritisieren, wobei damit meist gemeint ist: Um dies oder jenes für sich selber zumindest und eigentlich auch für alle anderen abzulehnen. Wenn Mensch etwas so entschieden und grundlegend ablehnt, werden natürlich alle Argumente zusammengekratzt. Das hat mich angespornt, meine eigene kritische Stimme an diesem Zeitgenossen zu messen und mich um eine öffentliche Position zu bemühen, und zwar ohne “name-dropping“, ohne etwas nachzulesen.

Gerade die Zen-Philosophie liebt solche Risikobereitschaft: einen unmittelbaren Schrei aus der Tiefe der Knochen im Rinzai-Zen oder ein freches, geistreiches, spontanes Wort auf eine Zumutung hin, die sich wie eine Ohrfeige anfühlt – nicht nur bei der Koan-„Arbeit“ -,  wie in den Zen-Geschichten und -Gedichten überliefert. Es kostet Mut, aus dem Moment heraus eine Assoziation preiszugeben, wenn nach dem Verständnis einer provozierenden Aussage gefragt wird. Bis Mensch (der “Schüler/die Schülerin“) darüber lachen kann, über sich selber wie über das interaktive Spiel mit Meisterin oder Meister, ja sogar über sein/ihr eigenes “verpfuschtes Leben”, kann lange dauern. Zahllose Übungs-Phasen sind von Niedergeschlagenheit mit Selbstzweifeln und Zweifeln an allem, was einem z.B. während eines sog. Sesshins (meist 7-tägige Zen-Praxisperiode) geboten wird, geprägt. Man könnte auch sagen: Alle Emotionen und krause Gedanken (“Affengeist”), der gesamte bunte Blumenstrauß plus eine Menge an schwarzen und tiefblauen Pflanzen marschieren auf und feiern fröhliche Urständ. Wer will das schon, wer sucht sich so etwas aus?  – Der Kritiker jedenfalls nicht.

Er hat schreckliche Dinge gelesen, die ich auch furchtbar finde: Von Bodhidharma, einem Mönch aus dem fünften Jahrhundert unserer Zeitrechnung, der sich aus Verzweiflung über seine Müdigkeit, bei Jahre langem Meditieren bis in die Nacht hinein, die Lider abschnitt. Das ist nicht die einzige „wahre“ Geschichte der verehrten Zen-Ahninnen und -Ahnen, die einen an der geistigen Gesundheit der Übenden zweifeln lassen möchte. Männer mögen vom Heroismus mancher fast soldatisch geführter Zen-Gemeinschaften angesprochen sein, sie haben das Soldatische schließlich im karmischen Gepäck. An gesunden, modernen geschweige denn, postmodernen Übergangsritualen für junge Männer gibt es leider noch nicht so viel – „Vision-Quest”- Angebote ausgenommen -, von denen wir gesellschaftlich leider wieder weit entfernt sind. Von solchen alten, von Mentorinnen und Mentoren gut begleiteten Zäsuren beim Erwachsenwerden, ist viel zu halten. Derzeit sind leider wieder Kriege als einschneidende Zäsur (siehe das Unwort „Zeitenwende“) angesagt, die unkreativste alle Initiationen.

Manche der heutigen Frauen möchten den mehrheitlich männlichen Zen-Adepten und Meistern (das Ungleichgewicht hat sich in den USA deutlich geändert, aber die traditionellenTexte sind auf Männer bezogen geblieben) empfehlen, ihren Müttern Dankbarkeit zu erweisen, indem sie sich um sie kümmern und sich damit befassen, dass sie ohne den Liebesakt, das Austragen und Gebären und Nähren einfach nicht existieren würden. Hier findet eine Verleugnung über die archetypische und faktische Bedeutung der Gebärmutter statt, die sich im ENSO, DEM Symbol des Zen, immer noch abbildet. Einige von den Müttern, vielleicht auch Schwestern, würden den Buddha-Weg vielleicht auch schätzen, wenn sie herangeführt würden und man ihnen Arbeiten wie Kinderaufzucht und Haushaltsführung abnehmen oder mit ihnen teilen würde. Die Kinder der Mönche  und deren Mütter könnten und sollten Mönche aktiv und liebevoll unterstützen; eine Ehe konnte ja in vielen Traditionen nicht in Erwägung gezogen werden, während sie im Zen gestattet ist. Gleichgeschlechtliche Liebe, auch bei Frauen, muss endlich aus dem zerstörerischen Schatten heraus treten, denn vermutlich spielt sich da ebenso viel an heimlich gelebter Liebe ab wie in der katholischen Kirche. Die Bordelle, zumindest in der Nähe der Klöster, sind zu schließen, weil sie ein Symbol der Doppelmoral sind. Der Bau von Familienklöstern hingegen ist zu ermöglichen.

Nun höre ich den Zeitgenossen wieder pöbeln: Wieso überhaupt Klöster? Unser Freund hatte sich abschätzig über das lange Sitzen unter Schmerzen ausgelassen, das ewige Putzen und Anderes, das ihm nicht einleuchtete. Mir persönlich hatte die hohe Stellung des “Tenzo” (Sangha-Koch) nicht eingeleuchtet. Wenn täglich kochende Frauen derartig verehrt würden, wie sie es verdienten, würde die ganze Welt sich ändern! Dazu fällt mir die junge Frau namens Sujata ein, die dem fast verhungerten Buddha eine Schüssel mit  Milchreis bringt, und danach noch einige Mahlzeiten, so dass dieser wieder zu Kräften kommt. Ist es abwegig zu denken, dass der Milchreis ein Symbol für die nährende Muttermilch ist? Die junge Frau kurz vor ihrer Geschlechtsreife oder schon reif für das Mütterliche, Nährende, Fürsorgliche steht, das der Buddha noch integrieren musste?

Aber zurück zu der Frage: Warum eigentlich Klöster? Das lange Sitzen?  Diese Frage und auch andere sind berechtigt. Bei manchen (ehemaligen?) Klöstern, die zur Unterhaltung ein Vermögen kosten, finden die Suchenden inzwischen einen Sauna-Bereich, und man ahnt es schon, gehören auch „Schlemmer-Angebote“ zum Angebot. Abverlangt wird den Besuchern nichts mehr, außer dass sie ihren Wohlstand einbringen.

Also gibt es nur Extreme? Entweder fast gar kein erkennbares Übungsprogramm mehr mit “formaler Sitz-, Geh-, Arbeits-Praxis” oder ein “Bis-an-den-Anschlag-Gehen”, wo gesunde Selbstfürsorge auf der Strecke bleibt? Nein, ich nehme wahr, wie viel Offenheit und Kritik riskiert werden, wieviel Experimentierfreude gelebt wird, zum Beispiel zwischen säkularer und eher religiöser/monastischer Übung. Auch moderne didaktische Methoden werden immer öfter angewandt (Dyaden- und Gruppenarbeit, Council, Schreibkunst als Zeugnis-Ablegen, Praxis in der Natur, Zen unterwegs, Pilgern an “unterversorgte Orte”.)

Persönlich sind mir, um mich vollständig zu fühlen, ein paar christliche Elemente wichtig – sicherlich vergesse ich hier einige. Die Nachfolge Jesu, sein konkreter Einsatz für menschliche Berührung ohne Unterschiede, sein Bekenntnis zu den strukturell eher Unterdrückten, bedeuten mir viel. Mein Eindruck ist, dass wir Buddhistinnen uns noch nicht ausreichend mit der “strukturellen Gewalt moderner Gesellschaften und unserer Antwort darauf auseinander gesetzt haben. Das zeigt sich auch daran, wie wir über die Zerstörung unserer Lebensgrundlagen denken und sprechen. Es geht nicht nur, um zwei Beispiele zu nennen, um unser Konsum- und Wegwerf-Verhalten. Sondern auch um eine Gewalt, die so umfassend ist und schwer zu lokalisieren, dass unser Mitgefühl an solcher Anonymität scheitert und scheitern muss.

 

Den „Mut zum Esel“ möchte ich mir zu eigen machen, das Wetteifern um Status,  Schnelligkeit, Aussehen, Klugheit immer wieder aufgeben können. Gewaltfreiheit in Rede und Tat zu studieren – das heißt, die Motivation zu Gewalt überhaupt erkennen und steuern zu lernen – UND zu üben, ist mir wichtig. Hier sehe ich Gandhi, Marshall Rosenberg, Dr. Ambedkar als drei bekannte Lehrer unter anderen.

Weiter sind mir wichtig: Ein Schuss Marxismus für wichtigste Erkenntnisse über Eigentum, Produktivkraft Arbeit, soziale Ungleichheit und die Abschaffung/der Ausgleich derselben; ein Schuss Anarchie für die unzähligen Graswurzelbewegungen; ein guter Schuss Befreiungstheologie (mit all ihrer Risikobereitschaft) und ein weiterer in feministischer Theologie (die auch vielen Männern und der nächsten Generation zugute kommt) möchte ich schmecken können. Und nicht zuletzt, sondern an prominenter Stelle, unsere verehrte Älteste Joanna Macy! Sie hat so früh begonnen, Trauer- und Verzweiflungsarbeit anzubieten, oft auch in Deutschland (ich war leider zu eingespannt, um an einem ihrer Workshops teilzunehmen), ihr Lebenswerk “Die Welt als Geliebte”: eine reine Freude! David Robert Loy wiederum, ein enger Freund von Joanna Macy, reist umweltschonend in Europa herum und bietet  uns den “Weg des Ecosattva” an: Dessen Gelöbnisse. Dessen Übungsweg.

Es muss ja nicht alles und für alle sein. Aber ich freue mich über die wachsende Einsicht von Zen-Zentren, dass sie, wie Bernie es vorausgesehen hatte, ihre Pforten öffnen mögen für andere Traditionen, Übungswege, Lehrerinnen.

Vom Buddhismus dürfen wir das Loslassen lernen,  ein im Westen oft verpönter Begriff. Auch ich fand ihn banal. Dabei bedeutet er das Gegenteilt von banal; aber für uns muss alles spektakulär sein, auffällig, neu. Loslassen bedeutet “nur”, die Hand leicht zu öffnen,  die Schultern sinken zu lassen, gelassen zu bleiben, wenn es kracht, sich dem Schlaf, der Veränderung und vielleicht auch dem Tod zu überlassen. Nicht-Tun. Damit haben wir Probleme.  Die Illusion von Kontrolle und Getrenntheit erkennen und viel, viel mehr. Gelehrte sagen, dass sie auch in mehreren Leben den Schatz buddhistischer Weisheit unmöglich würden heben könnten…

Ich, und nicht nur ich, sondern mein Lehrer Norman Fischer zum Beispiel, mit dem ich nicht immer einer Meinung bin und auch nicht sein muss,  finden auch christliche Klöster großartig. Norman hat sich auch  in einem solchen eine Zeitlang aufgehalten und Psalmen übersetzt, und lebte zeitweise (Jahre lang!) mit seiner Frau Kathy Fischer, auch einer Zen Meisterin,  und den jungen Zwillingen in Zen-buddhistischen Klöstern  (Green Gulch, Tassajara und im San Francisco Stadt Zentrum). Ausdauernde formale Praxis, wozu Sitzen gehört, liefert uns den “Stoff”, an dem wir arbeiten, uns kennen lernen und das uns in die Stille führt (führen kann, führen wird). Das kann man von außen, freilich, schlecht erkennen.

Was meiner Ansicht nach zu selten auf den Tisch kommt, ist dies. Wir im Westen (damit ist meist der weißhäutige, kapitalistische Teil der Welt gemeint) sollten uns mit all unseren Schattenseiten auseinandersetzen: Sklaven bis heute, Kolonialismus und damit Ausbeutung bis hin in subtilste Bereiche mit gleichzeitiger schamloser Bereicherung, während der Gewaltanteil und damit die Verletzung der Bestohlenen und deren Habitat ignoriert, heruntergespielt, geleugnet wird. Wir können uns das Ganze gar nicht schamlos und drastisch genug vorstellen. Durch meine Zen-Retreats an “Unterversorgten Orten” und Pilgerreisen habe ich viele Einblicke gewonnen, übrigens auch aufrichtende Einblicke, aber eben auch die beschriebenen, wo wir noch viel zu tun haben.

Mit derselben Borniertheit leugnen wir großartige geistige, spirituelle Erfahrungen, Erkenntnisse, Übungswege und Weisheit anderer Religionen und religiöser Traditionen. Es gibt ganz einfach eine Wissenschaft oder Wissenschaften des Bewusstseins, ob wir das anerkennen oder nicht.

Die Zen-Geschichten, Koans sind deshalb so drastisch, zum Teil unerträglich frech und herausfordernd, weil wir Menschenwesen tatsächlich alle Eines gemeinsam haben: Unseren Widerstand gegen diese Innenschau, wenn sie anstrengend oder langweilig oder schmerzhaft wird.
Manchmal stellen sie sich auch gratis ein: die Erkenntnisse, die ‘Große Freude’, das Durchhaltevermögen, der Fleiß und die Überzeugung, dass wir uns durch Schmerzen hindurch atmen und die Gemeinschaft höher als unsere Partikularinteressen einschätzen können. Doch oft sehen wir es einfach nicht ein: Warum soll ich mich jetzt nicht belohnen, mich nicht ausruhen, nicht aufspringen und wegrennen, und zwar so schnell wie möglich? Wegen der Antwort, die ich jetzt gebe, meine ganz persönliche Antwort natürlich: Die Freiheit, die nicht vom dicken Portemonnaie, von der Befriedigung meiner materiellen Bedürfnisse, auch der immateriellen, vom Gesehen- und Anerkannt-Werden und dgl. abhängt, finde ich JETZT und HIER, welches sich jedoch wie ein Jenseits anfühlen kann.

Nach dem Sitzen? Kann sein.
Jenseits meiner Erwartungen? Ja.
Wenn der Schmerz wieder nachlässt? Eigentlich nicht.

Die Befreiung liegt in der bewussten Konfrontation mit der Zumutung. Diese fühlen, an Dich heranlassen. Bernie Glassman sagte: Zum Schmerz werden. Zum Widerstand mitsamt seinem Hass, seiner Schmerzen, seines Trotzes, seiner Enge.
Und: Weiter sitzen. Sonst lernen wir es nie. Das Loslassen. Was wir meinen zu brauchen, wieso sollten wir es lassen? Das gilt für eine Zigarette genauso wie für die Aufmerksamkeit der Freundin wie der Angst. Ja, auch Angst können wir lernen anzunehmen und loszulassen. Es braucht aber Zeit und Übung.

Freiheit stellt sich ein. Bodhidharma suchte bestimmt eine andauernde Erfahrung dieser Freiheit. Ich hätte ihm zusätzlich zu seiner Berufung,  eine soziale, handwerkliche oder künstlerische Aufgabe in der Welt gewünscht, wie den jungen Menschen heutzutage Sicherlich keinen Kriegsdienst.