Ich hörte diesen Ausdruck zum ersten Mal von Zenmeister Bernie Glassman, meinem Zenpeacemaker-Lehrer. Dieser Begriff „Zenpeacemaker-Lehrer existiert nicht offiziell: Für mich sagt er alles, was in diesem Zusammenhang wichtig ist. Als ich Bernie, so liess er sich am liebsten nennen, kennenlernte, nahm er schon keine persönlichen Schüler mehr an. Vielleicht, wenn ich nicht locker gelassen, mir das Gesicht zerkratzt oder mich drei Tage in Birkenau in den Schnee gesetzt hätte, nachts, vor eine der Baracken, hätte er mich noch angenommen -, das werde ich jetzt nicht mehr erfahren. “Es gibt genügend gute Zen Lehrer:innen hier”, pflegte er zu sagen. Ich glaube, er hätte gern gesehen, wenn ich zu einem seiner Freunde gegangen wäre. Einer lehrte oft in Europa: in der Schweiz, in Norditalien, in Griechenland, ob in Deutschland, weiss ich nicht. In meinem zweiten “Familien”-Council in Auschwitz wurde ich dem Genro-Council zugeteilt. Viel später dachte ich daran, dass man vielleicht einen passenden Lehrer für mich und alle „Wiederholungstäter: innen“ suchte. Ich fand den Gedanken befremdlich, jemandem zugeschoben zu werden, ohne offen darüber zu sprechen. Als Künstlerin war ich gewohnt, mir Workshop-Leiter, Lehrerinnen, “Meister”- wie im Handwerk und in der Bildenden Kunst – selber zu suchen.

Die Zenpeacemaker-Lehrer boten sich selber an…Barbara Salaam hatte ich zwar gefragt, ob man sie als Lehrerin haben könnte; bald kündigte sie ihre Reise zu uns, mir und meinem Ex-Ehemann, mehr oder minder an. Ich war verwundert und geschmeichelt. Frank De Waele lud sich selber ein, als die Grundlagen der Lampedusa-Bearing Witness-Reise, d.h. 90 % der Organisation, die ich zusammen mit Morena Poltronieri aus Bologna gemacht hatte, “standen”:
Datum, Unterkunft, Kooperationspartner in Lampedusa, der uns unterstützte (Giacomo Sferlazzo), andere Kooperationspartner und damit die Grundstruktur des Programms, “standen”. Der „Deal“ war, dass ich, wie Roshi Frank meinte, durch ihn mehr Zulauf bekommen würde. Was stimmte. Dass auf diese Weise zwölf Teilnehmr:innen aus vier europäischen Ländern zusammen gekommen waren, freut mich bis heute. Wir hätten mit dieser Truppe weiter praktizieren sollen – doch das lag nicht mehr in meinem Einflussbereich.
Seitdem war ich noch dreimal in Sizilien, einmal davon wieder auf Lampedusa – und ich habe mich in Sizilien verliebt. Ohne die für mich nicht mehr erträglichen Sommertemperaturen hätte ich ernsthaft erwogen, meinen Alterssitz dorthin zu verlegen bzw. einige Monate im Jahr auf der Insel zu verbringen: Schreibend, weiter engagiert, Workshops dort anbietend. Jetzt ist mir die Hitze im Rheinland schon zu heftig.

Giacomo Sferlazzo war Mit-Gründer des Kollektivs “Ashkavusa – Museo degli Migranti”, dazu Vater, Dichter, Musiker, Aktivist. Er war bereit, uns einzuladen, um Gesprächsrunden (Council) im Museum zu machen, uns an den Fischer Pasquale Vito zu vermitteln, der im Oktober 2013 ca. 50 Menschen vor dem Etrinken gerettet hatte. Insgesamt waren es an die fünfhundert gewesen.

Der „Campeggio La Roccia auf Lampedusa schien mit den Blockhütten und dem Restaurant genau das Richtige für uns zu sein. Und die Bürgermeisterin Giusi Niccolini war über unser Kommen, unser Anliegen, informiert worden. Am Ende unserer Reise war es dann wirklich zu einem Gespräch mit der Bürgermeisterin gekommen.La Roccia Lampedusa

„Unterversorgte Orte“ sind diejenigen, über die man hinwegsieht, wo man abwinkt und sagt: „Bloß das Thema nicht“, wo auch die offizielle Politik meist einen Bogen herum macht. Deutschland soll schliesslich in gutem Licht da stehen! Dass man auch mit Menschlichkeit, Unbequemlichkeit, offenen Augen und offenem Herzen punkten kann, kommt meist nur Graswurzelbewegungen in den Sinn und wenigen Geistlichen und Gemeinden. Armenspeisung scheint aus der Mode gekommen. Auch international. Im Gegenteil! Während dem zum Tode Verurteilten noch eine letzte Mahlzeit offeriert wird, wird denen in Palästina – flüchtend, gehetzt, sich selbst überlassen, verarmt, verzweifelt – sogar noch die Erreichbarkeit von Wasser und Essen entzogen.

„Unterversorgte Orte“ können wir auch in unserem Inneren, unserem Körper, lokalisieren. In unserer Familie. Dann haben wir uns zuerst darum zu kümmern. Das Abwägen ist manchmal schwer. Ich durfte die Erfahrung machen, dass ein Charakteristikum für selbstloses Helfen eine gewisse Leichtigkeit ist und – Freude. Diese Freude wirkt wieder auf unser eigenes Wohlbefinden zurück. Ich bin ganz sicher, dass Kinder spontan teilen und geben würden, wenn sie nicht schon zum gegenteiligen Verhalten gemahnt würden. Sie sind darauf angewiesen, den Älteren zu glauben und zu vertrauen, selbst wenn es ihnen tief innen nicht 100 % richtig vorkam. So lernten sie früh, ihre Herzen zu panzern, sich in sich zurück zu ziehen oder überlaut zu werden.

Marshall Rosenberg spricht von dieser Unmittelbarkeit des jungen Kindes, die wir wieder erinnern und erlernen können. Dieses Lernen geht nicht schnell und ist schmerzhaft. Ich finde, es ist wie eine neue Sprache zu lernen – die Sprache der Gewaltfreiheit.

Zen Meister Dogen verwendet ein Gleichnis, um diese Art Handeln, diese Art Geben zu verdeutlichen. Es ist, so lässt er eine Person sagen, wie wenn ein Zen-Praktizierender des Nachts mit der Hand nach hinten fährt, um sein Kopfkissen zurecht zu rücken. Mir schien nicht nur dieser Vergleich ein wenig bemüht, und damit irgendwie elitär.
Doch, bei weiterem Nachsinnen, finde ich es recht geschickt und plausibel. Uns wird mitgeteilt, dass die mitfühlende Handlung so intuitiv und spontan, vielleicht auch so diskret und selbstsicher – fast blind! – zu erfolgen hat, dass wir sie im nächsten Moment schon vergessen zu haben.

Jetzt, wo ich darüber schreibe, bin ich tief berührt. Bernie‘s Auslegung war ein wenig anders, die Triebkraft scheint mir jedoch dieselbe zu sein. Im Unterschied zu Meister Dogen ermahnte Bernie uns jedoch, im Gegenteil, über das sprechen zu lernen, was uns an „Engagement an unterversorgten Orten“ am Herzen lag. Er beklagte, dass zu wenige Menschen sich darüber im Klaren wären, dass Hilfe möglich ist, und wie vielfältig, kreativ sie sein kann. Wir dürften andere und einander ruhig inspirieren, mutig und selbstbewusst um Unterstützung bitten, auch für Projekte, die auf den ersten Blick nicht so einleuchtend sind.

Auch Zen Meisterin Joan Halifax, die Bernie als guten Freund und Lehrer ansah, hat zwar sicherlich auch „unerkannt“ gegeben, aber sie hat zum Beispiel das grossartige Nepal-Klinik-Projekt immer dokumentiert, auf Facebook, in sorgfältig gestalteten Newslettern und Vorträgen. Auch sie hat ein Training designed und angeboten, das sie „Sozial Engagierter Buddhismus“ nennt.

Ich bin froh und dankbar, das einjährige Training mitgemacht zu haben.

Pema Chödrön, von der ich nicht nur das erste Buch über Tonglen gelesen und studiert habe, hat auch ein anderes, extrem wichtiges, geschrieben: Geh‘ an die Orte, die Du fürchtest. Bernie Glassman tat das immer, es war seine Natur.

Das “Unterversorgte” versorgen heißt: Hingucken – Hingehen – Lieben.

Auf der Stele sind die Namen der Opfer eingraviert (Gedenkstätte „Landjuden“, Much)