Die Wunde Remagen berühren
Samstag, 05.10.2024

Ingo Thies

I Hoffnung und Ängste
Samstag morgen, der Bus nach Remagen ist brechend voll. Noch gerade zwei Sitzplätze
bekommen. Auf der Fahrt nach Remagen stimmt Monika mich auf das ein, was uns
erwartet, und auf das was dahinter steht:
Die langjährigen und Generationen übergreifenden Traumata des Krieges. Der Krieg
endete 1945, doch die Wunden bestehen bis heute. Wunden der Schuld, aber auch
Wunden des Leides der Groß- und Urgroßeltern. Langsam verstehe ich, warum immer
noch so viele Menschen unterschwellig irgendwie gestört sind. Schweigen über das Leid
der eigenen Vorfahren. Tabus, weil nicht sein kann, was nicht sein darf. Doch es bleibt die
Hoffnung, dass die Auseinandersetzung mit dem Abstand von fast 80 Jahren einen Hauch
von Mitgefühl für die Ängste der Kriegsgeneration keimen lässt.
Ängste vor dem NS-Regime, das keine Abweichler duldete. Ängste vor – vermeintlichen –
Bedrohungen, die den Großeltern vom Regime eingetrichtert wurden. Ängste vor den
Bomben der Alliierten.
Wie kann vor diesem Hintergrund Hoffnung und Frieden wachsen? Dafür braucht es
Mitgefühl – auch mit denen, deren Schuld offensichtlich ist. Mitgefühl mit den Tätern, auch
wenn es schwer fällt. Doch es geht nicht um Entschuldigung, sondern darum, die
Beweggründe zu verstehen und auf die heutige Situation zu schauen. Denn nur dann,
wenn man versteht, wie Hass und Gewalt entstehen, kann man versuchen, sie zu
überwinden.

II Am und im Friedensmuseum Remagen
Am Museum angekommen, fällt sofort die massive Bauweise der Brückentürme auf, die
mehr sind als nur Pfeiler. Es ist eine richtige Festung, erbaut im Ersten Weltkrieg zu
militärischen Zwecken. Für jenen Krieg kam die Fertigstellung zu spät, doch im Zweiten
Weltkrieg wurde hier erbittert gekämpft.
Soldaten und Zivilisten versteckten sich im Tunnel auf der Erpeler Rheinseite bzw. wurden
dort hinein getrieben. Welche Ängste mussten sie erdulden, ehe sie die weiße Fahne
hissen konnten?
10000 Bomben fielen auf Remagen und, als die Brücke immer noch stand, trotz
versuchter Sprengung durch die Wehrmacht, versuchte diese sogar, sie mit einer V2-
Rakete zu treffen. Am Ende stürzte die beschädigte Brücke ein und riss 28 Menschen in
den Tod. Was mussten die Menschen in Remagen alles erdulden, ehe dieser sinnlose
Krieg endlich zuende war?
Nach dem Besuch im Museum pilgerten wir durch die Goldene Meile, einem Feld am
Rhein, wo 1945 drei Monate lang Hunderttausende Kriegsgefangene lagerten, zur Kapelle
der Schwarzen Madonna, wo ich diesen Text aufschreibe.

Diesen Pilgerweg widme ich der Synagogengemeinde Bonn, die dieser Tage im Oktober der blutigen Terrorattacke der Hamas auf Israel gedenkt und in dem dieses Jahr zugleich die höchsten jüdischen Feiertage liegen. Mögen sie ein friedliches neues Jahr 5785 und
einen friedlichen Jom Kippur begehen.